Aus der Chronik des Jordan von Giano
Im Jahre des Herrn 1219 aber, im zehnten Jahr seiner Sinnesänderung, schickte Bruder Franziskus auf dem Kapitel, das bei Sancta Maria von Portiunkula gehalten wurde, Brüder fort nach Frankreich, nach Deutschland, nach Ungarn, nach Spanien und in die übrigen Provinzen Italiens, wohin die Brüder noch nicht gekommen waren.
Nach Deutschland aber wurde Bruder Johannes von Penna mit etwa sechzig oder mehr Brüdern geschickt.
Als sie, unkundig der deutschen Sprache, deutsches Gebiet betreten hatten und gefragt wurden, ob sie Unterkunft oder Essen oder sonst etwas wünschten, antworteten sie mit „ja“; und so wurden sie von einigen freundlich aufgenommen. Da sie merkten, daß man sie wegen dieses Wortes „ja“ freundlich behandelte, nahmen sie sich fest vor, auf alle Fragen mit „ja“ zu antworten. Daher geschah es, daß sie auf die Frage, ob sie etwa Häretiker seien und deshalb gekommen seien, um Deutschland zu verseuchen, wie sie auch die Lombardei verführt hätten, auch mit „ja“ antworteten. Da wurden einige geschlagen, einige eingekerkert, andere entkleidet und nackt vor den Stadtrichter geführt und dienten den Leuten zum kurzweiligen Schauspiel. Da nun die Brüder sahen, daß sie in Deutschland keinen Erfolg haben könnten, kehrten sie nach Italien zurück. Wegen dieses Vorgangs hielten die Brüder Deutschland für so grausam, daß nur solche zurückzugehen wagten, die von der Begierde nach dem Martyrium beseelt waren.
Und so wurde diese ganze erste Aussendung ein völliger Fehlschlag, wohl weil die Zeit der Aussendung noch nicht gekommen war, „denn alles braucht hienieden seine Zeit“.
Im Jahre des Herrn 1221 … da hielt also der selige Franziskus bei Sancta Maria von Portiunkula das Generalkapitel.
Am Schluß dieses Kapitels aber, nämlich als das Kapitel gerade schon abgeschlossen werden sollte, fiel es dem seligen Franziskus ein, daß der Orden noch nicht in Deutschland Boden gefaßt hatte. Und weil der selige Franziskus damals krank war, so verkündete Bruder Elias alles, was er im Kapitel zu sagen hatte. Der selige Franziskus saß zu Füßen des Bruders Elias und zupfte ihn am Habit; dieser beugte sich herunter und erkundigte sich nach seinem Wunsch. Dann richtete er sich wieder auf und sagte: „Brüder, also spricht der Bruder“, – womit er den seligen Franziskus bezeichnete, der von den Brüdern, gleichsam mit besonderem Vorzug, der Bruder genannt wurde –: Es gibt eine Gegend – Deutschland –, wo fromme Christenmenschen leben, die, wie ihr wißt, unser Land mit langen Wanderstäben und dicken Kerzen in Schweiß und Sonnenglut durchwandern, dabei Gott und seinen Heiligen Loblieder singend, und hoffnungsvoll die Stätten der Heiligen aufsuchen. Aber weil die wiederholt zu ihnen gesandten Brüder zurückgekehrt sind, da sie mißhandelt wurden, zwingt der Bruder keinen, zu ihnen zu gehen. Wer aber, vom Eifer für Gott und die Seelen begeistert, gehen will, denen will er denselben, ja, noch reichlicheren Segen des Gehorsams spenden, als er denen erteilt, die übers Meer reisen. Und es erhoben sich, entflammt vom Verlangen nach dem Martyrium, etwa neunzig Brüder, traten todesmutig beiseite, wie sie geheißen worden waren, und warteten auf die Entscheidung, welche, wie viele, wie und wann sie aufbrechen sollten.
Es war aber auf dem Kapitel ein Bruder dabei, der pflegte in seinen Gebeten den Herrn anzuflehn, sein Glaube möge nicht durch die Häretiker aus der Lombardei zersetzt werden oder durch die Wildheit der Deutschen ins Wanken geraten, und vor beidem möge der Herr ihn gnädig bewahren. Nun sah er die vielen Brüder aufstehen, die nach Deutschland zu ziehen bereit waren, und er war der Ansicht, sie würden sogleich von den Deutschen gemartert werden. Da er aber betrübt war, daß er die nach Spanien geschickten und gemarterten Brüder nicht persönlich kennengelernt hatte, und deshalb verhüten wollte, daß es ihm bei diesen wieder geschehe wie bei jenen, so erhob er sich mitten aus allen, ging zu ihnen hin und lief dann von einem zum andern und fragte: „Wer bist Du, und woher bist Du?“ Er dachte nämlich, es sei eine große Ehre, im Falle, sie würden Märtyrer werden, sagen zu können: „Den habe ich gekannt, und jenen habe ich auch gekannt.“ … Und während dies geschah und jener neugierige Bruder bei den anderen festgehalten wurde, da wurde er einer anderen Provinz zugeteilt und laut aufgerufen: „Bruder Soundso geht in die und die Provinz.“ Während die neunzig Brüder unterdessen auf den Bescheid warteten, wurde ihnen als Minister für Deutschland Bruder Cäsar gegeben, ein Deutscher, aus Speyer gebürtig, wie bereits gesagt worden ist. Er bekam die Vollmacht aus diesen neunzig eine Auswahl zu treffen. Als er nun jenen neugierigen Bruder inmitten der anderen antraf, wurde er von ihnen gedrängt, auch ihn mitzunehmen. Aber weil er nicht gern zu den Deutschen gehen wollte und immerfort sagte: „Ich gehöre nicht zu Euch, denn ich bin nicht darum aufgestanden, um mit jenen da mitzugehen“, so wurde er zu Bruder Elias geführt. … Er sagte: „Ich befehle Dir, Bruder, im heiligen Gehorsam, Dir endgültig zu überlegen, ob Du gehen oder zurücktreten willst.“ … Zu gehen hatte er Angst wegen der Grausamkeit der Deutschen; er befürchtete, wenn er in Qualen die Geduld verliere, könne er in Gefahr für seine Seele kommen. Als er so verwirrt zwischen beiden Möglichkeiten stand und sich selbst keinen Rat mehr wußte, ging er zu einem Bruder, der in vielen Widerwärtigkeiten erprobt war …, und erbat sich von ihm Rat, indem er sagte: „Liebster Bruder, so und so ist mir befohlen worden, aber ich bin bange, eine Wahl zu treffen, und weiß nicht, was ich tun soll.“ Doch dieser darauf: „Geh zu Bruder Elias und sage: Bruder, weder gehen noch bleiben will ich, sondern nur das, was du mir befehlen wirst, möchte ich tun. Auf diese Weise wirst du dich aus dieser verwickelten Angelegenheit freimachen.“ Und er machte es so. Nachdem Bruder Elias ihn angehört hatte, befahl er ihm Kraft des heiligen Gehorsams, mit Bruder Cäsar nach Deutschland zu eilen. Dies ist Bruder Jordan von Giano, er, der dies für euch niederschreibt. Durch diese Begebenheit kam er nach Deutschland. Der Wut der Deutschen, vor der er so bange war, entging er! Zusammen mit Bruder Cäsar und den anderen Brüdern verpflanzte er den Orden der Minderbrüder erstmalig nach Deutschland.
Der erste Minister von Deutschland war Bruder Cäsar. Besorgt, den Gehorsamsauftrag, der ihm auferlegt worden war, erfolgreich auszuführen, nahm er mit sich die Brüder Johannes von Piano de Carpine, der lateinisch und lombardisch predigen konnte, den Deutschen Barnabas, einen hervorragenden Prediger in lombardischer und deutscher Sprache; und Thomas von Celano, der später sowohl die erste wie die zweite Legende des heiligen Franziskus verfaßte; ferner Joseph von Treviso; den Ungarn Abraham und Simon aus der Toscana, den Sohn der Gräfin von Collazone; Konrad, einen deutschen Kleriker; den Priester Petrus von Camerino; die Priester Jakob und Walther; den Diakon Palmerius; den Diakon Bruder Jordan von Giano nebst einigen Laienbrüdern, nämlich Benedikt, einen Deutschen aus Soest, und Heinrich, einen Schwaben, wie noch mehrere andere, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. Es waren jedoch im ganzen zwölf Kleriker und fünfzehn Laien.
Im Jahre des Herrn 1223, am 29. November, ist vom Herrn Papst Honorius III. die Regel der Minderbrüder bestätigt worden.
Im gleichen Jahre, am 8. März, ließ Bruder Cäsar den vierten Priester im Orden weihen, nämlich Bruder Jordan von Giano im Spoletotal, der fast einen ganzen Sommer lang als der einzige Priester abwechselnd in Worms, Mainz und Speyer war. Im selben Jahr setzte er Bruder Thomas von Celano als Kustos für Mainz, Worms, Köln und Speyer ein.
Im Jahre des Herrn 1224 fand in Würzburg auf Mariä Himmelfahrt ein Provinzkapitel statt, zu dem die Kustoden, Guardiane und Prediger berufen wurden. …
Im selben Jahr schickte Albert von Pisa, der Minister der Teutonia, den Bruder Jordan, Guardian von Mainz, mit sieben Brüdern aus, in Thüringen Häuser zu besetzen und die Brüder in geeigneten Niederlassungen unterzubringen. Denn er sah das Wachstum in Sachsen, und außerdem wollte er auf seiner Reise von Sachsen zum Rhein durch Thüringen ziehen.
Bruder Jordan machte sich nun mit seinen Brüdern am 27. Oktober von Mainz aus auf den Weg nach Thüringen und gelangte am Fest des heiligen Martin nach Erfurt. Da Winter und nicht die Zeit für Bauarbeiten war, wurden die Brüder auf Beschluß der Bürger und etlicher Kleriker in der Amtswohnung des Priesters für die Aussätzigen außerhalb der Mauern untergebracht, bis die Bürger die Lage der Brüder in besserer Weise ordnen könnten.
Die Brüder aber, die mit Bruder Jordan geschickt wurden, waren folgende: Bruder Hermann von Weißensee, Priester-Novize und Prediger; Bruder Konrad von Würzburg, Subdiakon und Novize; sowie der Bruder Arnold, Kleriker-Novize; ferner die Laien Bruder Heinrich von Köln, Bruder Gernot von Worms, Bruder Konrad von Schwaben, denen bald darauf Bruder Johannes von Köln und Bruder Heinrich von Hildesheim folgten.
Im Jahre des Herrn 1225 schickte Bruder Jordan Laienbrüder durch Thüringen, die Verhältnisse in den Städten zu erkunden.
Im selben Jahr übernahmen die Brüder auf den Rat des Herrn Heinrich, des Pfarrers von St. Bartholomäus, und des Herrn Vicedominus Gunther sowie anderer Brüder von Erfurt die damals verlassene Kirche zum Heiligen Geist, wo früher Ordenfrauen vom Orden des seligen Augustinus gewohnt hatten, und verblieben dort volle sechs Jahre. Der Prokurator, der den Brüdern von der Bürgerschaft gegeben worden war, fragte nun den Bruder Jordan, ob er ein Haus nach Art eines Klosters gebaut haben möchte, worauf dieser, der noch nie im Orden ein Kloster gesehen hatte, erwiderte: „Ich weiß gar nicht, was ein Kloster ist. Baut uns das Haus nur nahe am Wasser, damit wir zum Füßewaschen hineinsteigen können“. Und so geschah es.
Zitiert nach Lothar HARDICK (Hg.), Nach Deutschland und England. Die Chroniken der Minderbrüder Jordan von Giano und Thomas von Eccleston, Werl 1957